Haben Sie sich schon mal gefragt, was es bedeutet, wenn eine Trainingsmethode »10% mehr Muskelwachstum« oder eine Behandlung eine »30%ige Heilungschance« verspricht? Ganz ehrlich: ich blicke da nicht durch, obwohl das mein Kerngeschäft ist. Studien zeigen, dass selbst Ärzte, Ingenieure und andere Profis diese Zahlen völlig falsch deuten. Prozentzahlen verschleiern die realen Chancen und Risiken. Ich verrate Ihnen in diesem Artikel eine Methode, wie Sie Risiken leicht verständlich darstellen und auch verständlich kommunizieren können. Sie brauchen nur Stift und Papier. Ich zeige die Methode an ein paar Beispielen des Einkaufs, der Ausfallraten von Bauteilen, des Optionshandels und irreführender Erfolgsversprechen von Trainings- und Behandlungsmethoden.
Inhaltsverzeichnis
- Sehen Sie das Risiko intuitiv?
- Relative Risiken sind noch heikler
- Methode: Absolute Risiken visualisieren
- Ausfallraten: relativ = ausreichend; absolut = kritisch
- Ein Relativmaß ist kein Risikomaß
- Investieren: Rendite vs. Risiken
- Relative Maße verschleiern die tatsächliche Wirkung
- Selbst Experten interpretieren relative Risiken falsch
- Fazit
- Fußnoten / Quellen / Literatur
Sehen Sie das Risiko intuitiv?
Schauen wir uns zunächst ein Beispiel an. Ausgangslage: Sie und ich sind im Projektreview. Ich bin Teilprojektleiter und präsentiere Ihnen ein Entscheidungsproblem. Sie entscheiden. Sie haben also 1 Minute zum Nachdenken. Wir arbeiten ja nach Agenda. Die ist eng getaktet. Also:
Wir laufen Gefahr, in eine Lieferlücke für Kartoffeln zu geraten. Wir müssen dringend Nachschub besorgen. Ein Händler bietet den Sack á 100kg zum fairen Fixpreis. Das würde helfen. Diese Kartoffeln haben idealerweise einen Wassergehalt von 99%. Der Fachexperte für Kartoffeln warnt: Der tatsächliche Wassergehalt ist eher 98%. Kaufen oder nicht?
Die 1 Minute ist rum. Wie entscheiden Sie sich? Was haben Sie gedacht?
Mein sehr spontaner Gedanke war: »Die 1% Differenz im Wassergehalt ist doch egal. Wir brauchen dringend Kartoffeln. Und zwar gestern! 98kg Kartoffeln sind immer noch gut genug, um den Versorgungsengpass zu lösen.«
Und? Denken Sie so wie ich? Dann hat uns unser spontaner Gedanke aufs Glatteis geführt. Lassen Sie mich das Problem aufdröseln:
Überrascht? Anstatt 100kg enthalten die Säcke nur die Hälfte, 50kg. Natürlich wird jeder vernünftige Kaufmann die Säcke wiegen. Aber darum geht es nicht; sondern:
Relative Vergleiche sind alles andere als intuitiv für unser Gehirn.
In der Arbeitswelt sind wir aufgefordert, auch noch schnell zu entscheiden. Nicht intuitiv + dringlich = hohes Risiko für falsche Entscheidungen.
Relative Risiken sind noch heikler
Was aber bei Problemen, die wir nicht einfach mit Waage oder Messgerät kontrollieren können? Bei Risiken ist das häufig der Fall. Da klatsche ich Ihnen etwa so eine Ausfallrate hin: 300 FIT. Weil aber 300 eine auffällig hohe Zahl ist, mache ich 0,3 × 10-6 h-1 draus. Ist doch alles klar, oder nicht? Haben Sie meine Botschaft verstanden, dass ich diese Hardware für Automotive als sehr kritisch einstufe?
Eine andere Hardware fällt im Mittel mit rechnerisch 7,3 FIT = 0,0073 × 10-6 h-1 aus. Als Safety-Ingenieur bestätige ich Ihnen: Damit erfüllen Sie die gängigen (02.11.2022) Automotive Sicherheitsnormen. Salopp könnte ich sagen, das Risiko wäre gering. Mache ich aber nicht. Warum nicht? Na, eine relative Zahl ist Augenwischerei.
Keine Sorge. Wir schauen uns nun an, wie man das Risiko verständlich ausdrückt – ohne, dass Sie die Bedeutung von FIT und deren üblichen Grenzwerte kennen müssen. Erst allgemein, dann an Beispielen.
Methode: Absolute Risiken visualisieren
Dröseln Sie mit Stift und Papier die relativen Zahlen in ihre absoluten Anteile auf.
Das ist wie beim Planen: Es geht weniger um das Analysedokument, sondern um den Erkenntnisprozess während der Analyse.
Achtung: Risiko = Auftreten × Schwere
Ich rede hier nur über das Auftreten eines Ereignisses, das zu einem
schwerwiegenden Fehler führen kann.
Was heißt das nun für meine Ausfallrate?
Ausfallraten: relativ = ausreichend; absolut = kritisch
Autos fahren typischerweise 8.000h über ihre Lebensdauer (15 Jahre). Da im Elektrozeitalter alles umgebaut werden muss, haben wir ein tolles Geschäft über 3 Millionen Stück. Folglich:
Oha! Trotz der traumhaften FIT-Rate von 7,3 FIT können immer noch 176 Fahrzeuge mit schwerwiegenden Fehlern ausfallen. Die Frage ist: Wie schwerwiegend? Das Kontinuum erstreckt sich von „Auto startet nicht mehr“ bis hin zu „schwerwiegender Unfall“ oder „Brand“. Aufgrund der üblichen Redundanzen in Fahrzeugen – naja, in deutschen Fahrzeugen – sinkt das absolute Risiko noch weiter. Aber um das Risiko auf kleiner 1 Fahrzeug zu reduzieren, muss ich einen Faktor 1.000 finden. Das bekomme ich auch nicht mehr durch hinbeten hin (d.h. weniger konservative Ausfallraten, Temperaturabhängigkeiten, etc.). Da muss technisch noch was getan werden.
Sie wissen ja wie das nun ist. Ich muss beim Projektmanagement mehr Aufwand für diese technischen Maßnahmen einfordern. Das in einer Branche, die von Stückkosten und Dringlichkeit getrieben ist. In der Kommunikation tue ich mich mit absoluten Ausfällen leichter. 176 Autos, die einen Unfall haben, kann sich jeder irgendwie vorstellen. Das ist greifbar. 7,3 FIT kapieren nur wenige. Ich mache das mittlerweile bewusst plakativ: »Wollt ihr (liebes Management) akzeptieren, dass 176 Autos brennen? Genau das bedeuten 7,3 FIT in diesem Projekt«. Nach dem obligatorischen Trara geben die meisten Kollegen dann Budget frei. Sie müssen aber die Notwendigkeit erstmal kapieren. Darum geht’s.
Ich glaube, Sie können nun verstehen, was 7,3 FIT in seiner Konsequenz für diesen konkreten Fall bedeutet, ohne dass ich Ihnen die Bedeutung von FIT (Failure in Time) im Detail erklärt habe. Wichtig ist auch, dass sich niemand mehr rausreden kann, sie habe die Tragweite der 7,3 FIT nicht verstanden. Wobei sie recht hat. 7,3 FIT gibt keine Tragweite an.
Ein Relativmaß ist kein Risikomaß
Angenommen, wir entwerfen mehrere Alternativen, dann könnten wir diese mit relativen Ausfallrisiken vergleichen. Durch die Relativierung können wir zunächst Stückzahlen vernachlässigen. Ob wir Entwürfe für 10.000, 100.000 oder 1.000.000 Stück beurteilen, macht erstmal keinen Unterschied.
ABER: Wenn man die beste Alternative ermittelt hat, ist das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht. Es verbleibt die Frage, ob das absolute Risiko vertretbar ist.
Aus meiner Sicht liegt genau in dieser Betrachtung eine Schwäche der heutigen (02.11.2022) Sicherheitsnormen. Wir sollen relative Ausfallraten ermitteln. Das ist aber kein Risikomaß, sondern ein Vergleichsmaß. Risiken sollten absolut ausgewiesen werden, weil man das Risiko erst dadurch kapiert.
Relative Maße taugen nur zum Vergleich zwischen verschiedenen Alternativen. Sie sind kein korrektes Risikomaß.
Den Unterschied zwischen Vergleichsmaß und Risikomaß soll nachfolgendes Beispiel verdeutlichen.
Investieren: Rendite vs. Risiken
Mit Optionen kann man viel mehr Geld bewegen, als man real besitzt. Ich könnte z.B. im Faktor 1:100 »hebeln«. Angenommen, ich setze 1.000 EUR ein und stehe vor einem 3% Verlust:
Gehebelter Betrag | EUR | 100.000,- |
Verlust 3% | EUR | -3.000,- |
Investition | EUR | 1.000,- |
Gewinn / Verlust | EUR | -2.000,- |
Sie sehen: Das Relativmaß -3% taugt einfach nicht zur Beurteilung von Einzelrisiken. Meine Absicherung des Risikos muss ich am absoluten Verlustbetrag ausrichten. Ich brauche die 2.000,- EUR hart in bar.
Das absolute Risiko ist an reale Konsequenzen gekoppelt.
Eine gänzlich andere Frage ist, wenn ich verschiedene Anlagemöglichkeiten mit unterschiedlicher Skalierung vergleiche. Beispiel:
Anlage A | Anlage B | |
Investment | EUR 5.000,- | EUR 10.000,- |
Dividende | EUR 375,- | EUR 450,- |
Rendite | 7,5% | 4,5% |
Anlage A erwirtschaftet zwar eine absolut niedrigere Dividende. Relativ gesehen, ist sie lukrativer. Vielleicht sollte ich Anlage B in Anlage A umschichten?
Aber auch hier: Ich könnte Anlage A auch fiktiv skalieren und die Dividende absolut vergleichen: 2 × 375,- EUR = 750,- EUR > 450,- EUR. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich kann mir die 300,- EUR Differenz plastisch besser vorstellen, als die 3% Differenz der Rendite. Bei 3% habe ich kein Bild vor Augen. Ganz anders mit 300,- EUR. Das ist ein schöner Abend zu zweit.
Anders gesagt: Nur, weil man relative Maße leicht berechnen kann; heißt es nicht, dass das sinnvoll ist. Definitiv nicht als Risikomaß. Die hochgelobte Volatilität von Aktien oder Derivaten rechne ich mir immer in absolute Gewinne oder Verluste in Eurocents um. Das verstehe ich besser.
Relative Maße verschleiern die tatsächliche Wirkung
Relative Maße begegnen uns an jeder Ecke. Sie kennen sicherlich Aussagen, wie »der Verzehr dieses und jenes Lebensmittels senkt das XY Risiko um 10%«? Oder, »mit dieser Trainingsmethode bauen sie 10% mehr Muskelmasse auf«? Ich will jetzt nicht auf die Validität derartiger Studien eingehen. Meiner Meinung ist das meist Scientismus; unwissenschaftlich. Aber anderes Thema. Mir geht es um die Interpretation dieser Zahlen.
Am Beispiel »10% mehr Muskelaufbau in einem Monat«. Wenn ich das lese, denke ich spontan: Meine 72kg × 1,1 = 79,2kg. Nein, das passt offensichtlich nicht. 7,2kg schaffen in kurzer Zeit nicht mal gewisse Hollywoodstars, die auf Steroiden und Anabolika unterwegs sind. Also, nochmal langsam:
Oha! 57g Unterschied. Die 7,2kg waren zwar offensichtlich falsch. Auf die 57g wäre ich aber auch nicht gekommen ohne dieses Bild. Wie ging es Ihnen?
Soll ich jetzt wegen 57g mein Training ändern? Wer garantiert mir, dass das kein Messfehler ist? Etwa durch: Wie hydriert waren die Athleten? Oder, waren die vorher auf dem Klo? Was für Athleten eigentlich? Blutige Anfänger, erfahrene Bodybuilder, Elitesoldaten? Will sagen: mit meinem einfachen Training „Push-Pull-Leg“ erziele ich auch vernünftige Ergebnisse; wenn vielleicht auch nicht ideale. Sie sehen schon: Dieser Scientismus geht mir gehörig auf den Zeiger. Die messen irgendwelche Zahlen zusammen. Wie wahr die sind, weiß der liebe Gott. Diese Zahlen taugen aber hervorragend zum Marketing und für nutzlose Doktorarbeiten, oder?
Die Frage ist: Wie hoch ist das absolute Änderungsrisiko im Vergleich zum absoluten Ertrag?
Selbst Experten interpretieren relative Risiken falsch
Kennen Sie Arztserien wie Grey’s Anatomy, wo die raushauen, »Sie haben mit dieser Behandlung eine 30%ige höhere Heilungschance«? Was zum Geier heißt das eigentlich? Ganz ehrlich: Ich kapiere das ad hoc nicht. Ich muss mir das auseinanderklamüsern:
Offensichtlich ist die relative Vorteilhaftigkeit weniger relevant als die generelle Sterblichkeit dieser Krankheit. Da frage ich mich direkt: Welchen Anteil an der (nicht) Heilung hat die Methode tatsächlich? Regeneriert sich mein Körper im linken Bild generell von allein (mit etwas Schützenhilfe), während rechts wenig Hoffnung besteht? Das wird uns niemand final beantworten können. Anscheinend tappe nicht nur ich im Dunkeln. Gerd Gigerenzer und Kollegen haben herausgefunden:[1]
Nur wenige Ärzte, Ingenieure, Professoren und andere Profis deuten die relativen Maße korrekt!
Unser Gehirn ist halt nicht auf Relativmaße ausgelegt; auch nicht bei den Profis. (Bei Gerd Gigerenzer finden Sie weitere interessante Beispiele irreführender Statistiken, vor allem im Medizinbereich.[1])
Deshalb ist meine Risikostrategie: Ich informiere mich über die absolute Erfolgshistorie meiner Ärzte für diese Krankheit mit dieser Behandlung. Welches Handwerk und welche Werkzeuge die einsetzen, ist zweitrangig; aber nicht irrelevant. Anstatt auf Durchschnittsstatistiken verlasse ich mich lieber auf Menschen, die wiederholt ihre Kompetenz – absolut – bewiesen haben.
Bringschuld der Risikomanager?
Eigentlich ist diese Frage obsolet. Sie beantwortet sich von selbst, wenn man dieser Maxime folgt:
Alles, was wir in der Entwicklung tun, dient der Kommunikation.
Wer so an seine Arbeit herangeht, erstellt seine Ergebnisse für die Leser. Pläne, Anforderungen, Architektursichten, Blockschaltbilder, Code, Testfälle erklären irgendwas. Die fallen anders aus, wenn man sie auf gelungene Kommunikation ausrichtet. So ist es auch mit Risiken.
Nur sehe ich im Projektalltag, dass man sich mit dem normativen Minimum zufriedengibt. Ausfallraten, Parts per Million oder Auftretenswahrscheinlichkeiten werden einfach so hingeworfen. Natürlich brauche ich die. Fraglos. Aber die sind ein Zwischenschritt. Für die Kommunikation sind sie ungeeignet. Ich habe sehr gute Erfahrungen mit den Darstellungen in obigen Bildern gemacht. Da kann man die Leser nochmal durchführen. Diese meisten Kollegen verstehen das auf Anhieb. Excel-Tabellen tun es grundsätzlich auch. Die Visualisierung ist aber äußerst ungünstig für das schnelle Verstehen, weil die Berechnungen in den Excelformeln versteckt sind.
Fazit
Relative Maße werden fälschlicherweise als Risikomaße eingesetzt. Das sagt aber noch nichts über das reale Risiko aus, vor dem wir in einer konkreten Situation tatsächlich stehen. Selbst studierte Fachexperten interpretieren relative Maße eher falsch als richtig.
Besser ist, die Risiken für den Einzelfall absolut zu berechnen und zu visualisieren, weil so die realen Konsequenzen klarer werden. Handwerklich brauchen Sie nur mit Stift und Papier die absoluten Anteile aufteilen. Scheint trivial; ist aber äußerst verständlich – auch in der Kommunikation.
Wie kommen Sie mit der Methode zurecht? Funktioniert es auf Anhieb? Ich freue mich auf Ihre Fragen und Erfahrungen.
Ihr, Nico Litschke
- ↑Vgl. Bauer, T., Gigerenzer, G., & Krämer, W. (2014). Warum dick nicht doof macht und Genmais nicht tötet: Über Risiken und Nebenwirkungen der Unstatistik. 1. Auflage. Campus Verlag.
Alle Bilder habe ich selbst erstellt. Sie basieren auf zufällig gewählten Daten. Als Ausgangspunkt können Sie die Bilder nutzen und auf www.draw.io weiterverarbeiten.
Titelfoto von Gaertringen auf Pixabay