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Fluchen: Der übersehene Performance-Booster

PERSÖNLICHKEIT
MANAGEMENT
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Nico Litschke • 07.12.2024 • 3 min

Ende des Jahres, der übliche Wahnsinn: Jahresabschluss. Die Formulare stapeln sich, ich sitze am Schreibtisch und fluche wie ein Rohrspatz. Meine Partnerin amüsiert sich prächtig. Mein Gezeter war mir gar nicht bewusst. Aber die Arbeit erledige ich trotzdem. Bemerkenswert! So ganz entgegen dem Motivations-Purpose-Sinn-Mainstream arbeite ich die Formalien ab. Begeistern oder motivieren kann ich mich dafür nicht. Ein Gespräch zwischen Andrew Hubermann und David Goggins brachte mich auf den Gedanken:[1] Steckt mehr in Fluchen?

Motivation: Ein riskantes Geschäft

Ich muss zugeben, dass ich diesen ganzen Motivations-, Sinn- und Purpose-Predigten kritisch gegenüberstehe. Meiner Meinung nach neigen Menschen, die nur auf Motivation setzen, dazu, ihre Arbeit bei anderen abzuladen, spätestens wenn es unbequem wird.

Wenn es nur um Ziele ginge, hätte ich nichts einzuwenden. Aber Motivation wird dann emotional überladen. Es kommt zu regelrechten Euphorie-Orgien. Das lässt uns vielleicht loslegen. Aber die letzte Meile beenden wir durch Disziplin, Verlässlichkeit und Aushalten. Vielleicht kennen Sie das von intensivem Sport. Wenn es hässlich wird, setzt der mentale Bullshit ein: »Hör auf, bevor du dich verletzt!« usw. Ich habe niemanden erlebt, der am gefühlten Ende seiner Kräfte hochhimmeljauchzend weitermacht. Nein, man muss sich durchbeißen.

Jede Arbeit hat nervtötende Aspekte. Wer davon verschont bleibt, lebt in der Komfortzone – oder lässt andere die Drecksarbeit machen. Ich störe mich daran, weil Arbeit immer dorthin fließt, wo sie gemacht wird. Wenn Leute in ihren Komfortzonen verharren, bleibt die unbequeme Arbeit an den Leuten hängen, die es aushalten. Das ist unkameradschaftlich und kein Zustand, den High-Performer lange tolerieren. Die Team-Performance degeneriert auf Komfortzone. Das reicht für Erfinden, Innovation und Fortschritt schlicht nicht aus. Unbequemlichkeit ist unvermeidbar. Bühne frei für das Fluchen.

Fluchen mit Etikette: Reduziert Stress, steigert Performance

Fluchen begegnet uns nicht nur auf dem Bau. Auch Menschen, die ihre Berufung gefunden haben, tun es: Berater, Krankenschwestern, Lehrer, Ärzte, Ingenieure, Piloten, Künstler, Sportler, Unternehmer. Fluchen ist ein emotionales Ventil – ein Coping-Mechanismus, der Stress abbaut.

Die Fluch-Etikette verlangt aber, dass man nur über Situationen flucht, nicht über Personen. Das ist ein entscheidender Unterschied. Offenes Fluchen über Personen ist Mobbing oder gar Diskriminierung. Fluchen über Situationen setzt Stress frei, mit einer positiven Implikation: Man ist gestresst, muss die Situation aushalten, will aber dranbleiben und abliefern.

Angenommen, das stimmt: Wie berechtigt ist es Menschen, die situativ fluchen, zu kritisieren? Die Anklagen reichen von »unhöflich« über »unprofessionell« bis hin zu »toxisch«. Wozu führt dann eine erzieherische Maßnahme, aka »Coaching«, um das Fluchen einzudämmen? Das stört zunächst einen funktionierenden Coping-Mechanismus und reduziert die Performance. Zudem besteht das Risiko, dass so ein Maulkorb den Betroffenen verprellt.

Evidenzen bitte!

Die Forschungslage über Fluchen ist stimmig mit meinen anekdotischen Behauptungen.

Fluchen[2] steigert kurzfristig die physischen[3] und kognitiven[4] Fähigkeiten sowie die Schmerztoleranz[5] . Siehe Abbildung 1

Unklar ist, wie genau Fluchen im Körper den kurzfristigen Stressabbau erzeugt.

Abbildung 1: Plausible Mechanismen, durch die sich Fluchen auf die körperliche Leistungsfähigkeit und die Reaktion auf Sport auswirken kann. Quelle:[4].
Abbildung 1: Plausible Mechanismen, durch die sich Fluchen auf die körperliche Leistungsfähigkeit und die Reaktion auf Sport auswirken kann. Quelle:[4].

Richtet sich das Fluchen auf eine sachliche Bedrohung, kann es das Gemeinschaftsgefühl, den Zusammenhalt und somit die Team-Performance steigern. Umgekehrt kann Fluchen die Teamleistung verschlechtern, wenn dadurch Personen gemobbt oder diskriminiert werden. Vorsicht mit erzieherischen Maßnahmen und Sprachregeln. Fähige Leute wollen keinen Maulkorb. Sie gehen eher dorthin, wo sie frei reden/fluchen dürfen.[6]

Bleibt noch die Frage, ob chronisches Fluchen ein Symptom chronischen Stresses ist. Das könnte mittel- und langfristig unsere Performance senken. Hier existiert ein weitverbreiteter Irrglaube: Auch chronischer Stress ist nicht per se zu verteufeln, solange er unseren Schlaf und damit unsere physische und mentale Regeneration nicht stört. Falls doch, kann chronischer Stress verschiedene Krankheiten auslösen. Zu dem Thema empfehle ich Dr. Mike Israetel in [7].

Fazit

Fluchen mag nicht jedem gefallen, doch es ist längst nicht so »unprofessionell«, wie oft behauptet wird. Im Gegenteil: Es ist ein effektiver Coping-Mechanismus, der Stress abbaut und kurzfristig die Leistung steigert. Entscheidend ist dabei die Etikette: Fluchen sollte sich immer auf Situationen beziehen – nie auf Menschen.

Wie sehen Sie das? Ist Fluchen für Sie ein No-Go, oder ein akzeptabler Weg, mit Frust umzugehen? Teilen Sie Ihre Erfahrungen!

Ihr, Nico Litschke

Endnotes

  1. Huberman, A. (2024). David Goggins: How to Build Immense Inner Strength. In Huberman Lab Podcast vom 01.01.2024. https://www.hubermanlab.com/episode/david-goggins-how-to-build-immense-inner-strength.
  2. Englisch »swearing«. Früher »cursing« oder »cussing«. Woke-isch »taboo language«.
  3. Stapleton, K., Beers Fägersten, K., Stephens, R., & Loveday, C. (2022). The power of swearing: What we know and what we don’t. Lingua, 277: 103406, S. 1-16. https://doi.org/10.1016/j.lingua.2022.103406.
  4. Washmuth, N. B., Stephens, R., & Ballmann, C. G. (2024). Effect of swearing on physical performance: a mini-review. Frontiers in Psychology, 15:1445175. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2024.1445175.
  5. Hay, C. M., Sills, J. L., Shoemake, J. M., Ballmann, C. G., Stephens, R., & Washmuth, N. B. (2024). F@#$ pain! A mini-review of the hypoalgesic effects of swearing. Frontiers in Psychology, 15:1416041. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2024.1416041.
  6. Baruch, Y., & Jenkins, S. (2007). Swearing at work and permissive leadership culture. Leadership & Organization Development Journal, 28(6), S. 492–507. https://doi.org/10.1108/01437730710780958.
  7. Williams, C. (2024). Dr Mike Israetel - Exercise Scientist's Masterclass On Recovery & Stress Management. In Modern Wisdom, Folge 842 vom 23.09.2024. https://open.spotify.com/episode/1hrBF7gf87t94ymSKS6onD?si=AaGkAwnORO6k3XUNF8o9rQ.

Titelbild: generiert mit DALL-E von OpenAI