Beratung kann dem Berater mehr dienen als dem Klienten – ein bekanntes Problem, das in der Finanzwissenschaft als »Agency-Problem« bezeichnet wird. KIs wie ChatGPT könnten das lösen: Sie bieten Informationen ohne Eigeninteressen. Können wir mit Selbst-Beratung mittels KI besser entscheiden? Einiges spricht dafür – solide Pläne lassen sich mit KI einfach erstellen und Agency-Kosten minimieren. In diesem Artikel zeige ich, wie das geht, wo die Grenzen liegen und wie Sie es selbst ausprobieren können.
Inhalt
Das Agency-Problem in a Nutshell
Das Agency-Problem tritt auf, wenn eine Person (der sogenannte »Prinzipal«) einen Experten (den sogenannten »Agenten«) konsultiert. Der Experte kann sich aufgrund seines Wissensvorsprungs auf Kosten des Prinzipals bereichern:[4]
- Moral Hazard: Der Experte empfiehlt Dinge, die vor allem ihm zum Vorteil gereichen
- Hidden Action: Der Experte verschleiert, verfälscht oder unterschlägt Informationen, um sich einen Vorteil zu verschaffen
Beispiel: Gerade Facharbeiter geworden, ließ ich mir einen Bausparvertrag andrehen – »perfekt für den Vermögensaufbau«, hieß es. Aber ich wollte gar nicht bauen. Jahre später wurde mir klar, dass ich ohne Bau keine staatliche Förderung erhielt und wie schlecht die Performance wirklich war. Die Verkäuferin strich ihre Provision ein. Ich trug den Schaden.
Fairerweise: Ich glaube, die Verkäuferin meinte es gut. Sie erklärte mir, wie sie das in ihrer Familie handhabte. Mir lagen auch alle Infos vor – in einem Stapel an Formularen und Prospekten im Juristenjargon. Bevor ich das las, hatte ich das Beratungsprotokoll unterschrieben und die Verkäuferin damit ent-schuldigt. Agency-Probleme sind oft systembedingt und in Strukturen verankert.
Theoretisch beugt man Agency-Problemen mit Sanktionen und Konditionalstrafen vor.[4] Aber wer würde dem zustimmen? Solche Maßnahmen setzen voraus, dass der Prinzipal eine starke Position gegenüber dem Agenten einnimmt. Das ist bei einzelnen Kunden nicht der Fall. Und, um klar zu sein: Agency-Probleme sind kein exklusives Phänomen der Finanz- und Versicherungsbranche. Sie können überall auftreten – in der Politik, im Krankenhaus, im Coaching, im Engineering, im Fitnessstudio oder sogar in der Vereinsarbeit.
ChatGPT für Selbst-Beratung?
Auch ChatGPT verfügt über mehr Informationen als wir – aber keine eigene Agenda. Es arbeitet neutral, es sei denn, wir weisen es explizit anders an. Das bietet entscheidende Vorteile:
- Keine Agenda: ChatGPT verfolgt keine Verkaufsprovisionen, keine Karriere, keine Macht
- Transparenz: Die Vorschläge basieren ausschließlich auf den eingegebenen Daten und lassen sich leicht nachvollziehen
- Kontinuität: Regelmäßige Abfragen helfen, Strategien langfristig anzupassen und zu optimieren
- Perspektivität: Wir können ChatGPT verschiedene Expertenrollen einnehmen lassen und so unterschiedliche Sichtweisen einholen
- Unemotional: ChatGPT hat keinen schlechten Tag – und es spielt keine Rolle, ob wir sympathisch wirken oder nicht
Moral Hazard können wir nahezu ausschließen. Hidden Information bleibt jedoch ein Risiko: Durch unvollständige Eingaben oder sogenannte Halluzinationen können fehlerhafte Antworten entstehen. Mit gezielten Prompts und kritischen Nachfragen lässt sich dieses Risiko jedoch minimieren. Wie das funktioniert, erkläre ich im Abschnitt »ChatGPT Prompt zur Anlage-Beratung«.
Ist Selbst-Beratung effektiv(er)?
»Beratung und Coaching müssen individuell auf die Person zugeschnitten werden«, heißt es. Doch was erleben wir? Standardformulare und Prospekte mit vorgefertigten Lösungen. Berater und Coaches nutzen oft standardisierte Ansätze – genau wie ChatGPT. Und in vielen Fällen kann die KI das genauso gut, wenn nicht besser. Doch der Punkt ist ein anderer: Pläne sind wertlos.
Individualität zeigt sich im Tun, in der Ausführung – im Können, nicht im Wissen. Sie wird in außergewöhnlichen Situationen relevant, wenn ein Experte mit all seinem Können eine passende Lösung erarbeitet. Doch im Alltag? Meistens bewegen wir uns im Rahmen der Norm – hier reichen standardisierte Ansätze aus. Diese liefert ChatGPT ohne Agency-Probleme. Es beeinflusst uns nicht, suboptimale Entscheidungen zu treffen.
Ein weiterer Vorteil ist die stärkere Betonung der Selbstverantwortung. Das Kernproblem des Agency-Problems ist, dass Menschen mehr Risiko eingehen, wenn sie es nicht selbst tragen. Selbst-Beratung löst diesen Konstruktionsfehler auf: Wir tragen die volle Verantwortung für unsere Entscheidungen – und handeln dadurch umsichtiger.[5]
Insgesamt: Warum sollte ChatGPT nicht mindestens ebenso gute Pläne liefern wie ein erfahrener Fachexperte? Am Ende liegt es an uns, die Wirksamkeit des Plans zu überwachen – unabhängig von der Beratungsform.
Ist Selbst-Beratung effizient(er)?
Wenn Effektivität gegeben ist, können wir nach (Kosten-) Effizienz fragen:
- Geringere Opportunitätskosten: effektiver(e) Produktwahl reduziert Agency-Kosten (siehe zuvor)
- Geringerer Initialaufwand: Selbst-Beratung kann jederzeit gestartet werden – bequem von der Couch, ohne Termin und Anfahrt
- Wegfall von Provisionen und Honoraren: Selbst-Beratung spart direkt an Beraterkosten
- Keine Zusatzkosten: Weder für Standardschulungen noch für versteckte Verkaufsveranstaltungen wie Webinare.
- Rendite maximieren: Niedrige Kosten bedeuten fast immer höhere Gewinne.
Grenzen der Selbst-Beratung
Ich will nicht die Grenzen von KI aufzeigen, sondern die Stärken guter Berater und Coaches (kurz: Coach):
- Strategie und Langfristigkeit: Ein guter Coach weiß, dass Veränderungen Zeit brauchen – sei es bei der Entwicklung von Gehirn, Muskeln, Strukturen oder dem Zinseszins. Er hilft, die richtigen Weichen zu stellen und Anpassungen vorzunehmen, wenn die Zeit reif ist.
- Außenperspektive auf inkonsistente Ausführung: Viele Dinge scheitern an lückenhafter Umsetzung – sei es beim Training, der Ernährung oder dem Vermögensaufbau. Anstatt den Plan komplett umzuwerfen, hilft ein guter Coach, die Umsetzung zu verbessern.
- Empathie und Skepsis: ChatGPT vertraut auf korrekte Eingaben, erkennt aber keine Widersprüche zwischen Verhalten und Worten. Ein Coach hingegen hinterfragt und gibt Feedback.
- Emotionale Unterstützung: Gerade hier zeigt sich wahre Individualität. Ein empathischer Coach erkennt, wo der Prinzipal in der Umsetzung strauchelt, und hilft gezielt weiter.
Anders gesagt: Ein guter Coach zeigt seine Stärke in der Umsetzungsbegleitung. Durch seine Außenperspektive sorgt er für eine bessere Ausführung. Doch wenn ein Coach das nicht leisten kann, unterscheidet er sich kaum von ChatGPT – und das Agency-Risiko überwiegt den Nutzen des Coachings.
ChatGPT Prompt zur Anlage-Beratung
Ein Beispiel, wie ChatGPT für die Selbst-Beratung genutzt werden kann:
Ich habe 10.000€ geerbt. Du bist ein Anlageberater mit 20 Jahren Erfahrung. Tue so, als ob du mein Geld für dich selbst und nicht für mich anlegen würdest. Wie würdest du einen hohen Ertrag erzielen, ohne das Geld zu riskieren? Frag nach Details, die du für eine präzise Antwort benötigst. Nachdem die Details geklärt sind, erstellen wir einen mittel- und kurzfristigen Aktionsplan.
Diese Rückfragen von ChatGPT kennen wir auch von Finanzberatern – dazu meine Antworten:
Bemerkenswert. In einer Bank oder Versicherung habe ich das so noch nicht gesehen:
- ETF: grundsolide, mit gutem Preis-Leistungs-Risikoverhältnis. Der MSCI World hat nur einen Nachteil: Small Caps fehlen...
- Staatsanleihen: sinnvoll, da ich Sicherheit betonte. Ich würde eher deutsche Staatsanleihen nehmen.
- REITs: bemerkenswert! Hatte ich nicht erwartet. Anteile an Immobilien für das kleine Portemonnaie.
- Thesaurierende ETFs: steuerlich marginal günstiger
- Kosten (TER): <0,3% p.a. ist realistisch. Ich würde eher auf »Tracking Difference«[2] zum Index achten; ist aber Minioptimierung.
- Cost-Averaging auf einen Jahreszeitraum ist eine psychische Optimierung. Bei mehr als einem Jahr rate ich davon ab:[3] »money in the market, beats timing the market«.
- Rendite und Vermögenswachstum: reale 5% bis 7% p.a. (also nach Inflation) sind realistisch und von Studien abgestützt.[1]
Ich bin schwer begeistert. Und dann noch dieser Satz:
»Keine Panik bei Kursschwankungen – halte dich an den Plan!«
Bravo! Jetzt holen wir noch mehr Perspektiven rein:
Nenne fünf anerkannte Fachexperten für dieses Thema. Wie würden sie den Aktionsplan beurteilen, was würden sie loben und was verbessern?
Ah! Small Caps! Ich habe ChatGPT ausgefragt, was das ist und wie ich darin mit einem einzelnen ETF investieren kann. Und siehe da: Das Weltportfolio – der All Country World Investable Markets Index taucht auf. Dem kann ich nichts hinzufügen. Kaufen. Warten. Fertig.
Damit können wir loslegen. Zuvor sichern wir noch die nächsten Schritte ab:
Wie sollte ich den Fortschritt und die Wirksamkeit des Plans überwachen? Welche Indikatoren sind wichtig, und wie oft sollte ich sie überprüfen?
Die Antwort darauf fasst ChatGPT so zusammen:
Auch dem kann ich nichts beifügen. Jedes Wort, dass man nicht versteht, kann man sich von ChatGPT en détail erklären lassen. Jeden Schritt, den man nicht versteht, kann man sich mit ChatGPT erarbeiten. Bleibt nur noch zu sagen: Umsetzen!
Fazit
Lösen KI Agency-Probleme? Moralische Probleme werden zweifellos gelöst, und Fehlinformationen können wir durch Perspektiven-Prompts begegnen. Insgesamt führt die Selbst-Beratung mit ChatGPT zu einer erheblichen Reduktion von Risiken. Doch eines bleibt entscheidend: Wissen gewinnt nur noch den Trostpreis. Wenn etwas schiefgeht, liegt es selten am Wissen, sondern an einem Mangel an Können und Selbstverantwortung, am Tun. Doch das lernen wir nur in der Praxis – und genau hier kann ChatGPT unseren Lernweg beschleunigen.
Am Ende zählt Können. Erreichen wir, was wir uns wünschen. ChatGPT gibt den Plan vor. Worauf warten? Es liegt nur noch an uns, in die Gänge zu kommen.
Ihr, Nico Litschke
Haftungsausschluss: Es ging mir hier um die Methode. Der Rechenweg, das Ergebnis und die Vorteilhaftigkeit gilt so nur für meinen konkreten Fall. Sie müssen das auf Ihren konkreten Fall adaptieren. Und natürlich ist dieser Artikel weder eine Versicherungs-, noch Finanz- und schon gar keine Steuerberatung. Das sind Lobby-geschützte Berufe ;)
Endoten
- ↑Jordà, Ò., Knoll, K., Kuvshinov, D., Schularick, M. Taylor, A.M. (2017). “The Rate of Return on Everything, 1870–2015” Federal Reserve Bank of San Francisco Working Paper 2017-25. https://doi.org/10.24148/wp2017-25
- ↑https://www.trackingdifferences.com/
- ↑Kommer, G. (2017). Die Legende vom Cost Averaging Effect. Im Internet, 07.01.2025: https://gerd-kommer.de/legende-vom-cost-averaging-effect/.
- ↑Pratt, J.W. und Zeckhauser, R.J. (2017). Principals and Agents: An Overview In: Principals and Agents: The Structure of Business, Boston, Harvard Business School Press, 1985, S. 1-25.
- ↑Taleb, N.N. (2018). Skin in the Game: Hidden Asymmetries in Daily Life. New York: Random House.
Titelbild: generiert mit DALL-E von OpenAI
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