Die Herausforderung unserer Zeit ist der Umgang mit Komplexität. Die Welt ist vernetzter, globalisierter, digitalisierter, gleichzeitiger. Krisen zeigen die Grenzen vermeintlich professionellen Managements.[1] Millionenschwere IT-Projekte scheitern.[2][3] Change Initiativen enden in Sackgassen.[4] Etablierte Unternehmen verschwinden.[5] Finanzkrisen werden häufiger und intensiver.[6] Aufbauhilfe betoniert marode Strukturen.[7] Händeringend suchen Praktiker nach passenden Werkzeugen. Berater und Gurus warten mit Stacey-Matrix[8], VUCA[9][10], Cynefin[11], New Work, Agilität und dessen Derivate auf. Deren Brennpunkt ist, dass sie Probleme in ein lineares Schema pressen.[12] Zu Recht kritisieren Experten für Komplexität diese Werkzeuge als sprachliche Neuauflage von trivialer Maschinendenke.[12] Sie sehen darin einen verzweifelten Versuch, zu steuern, was sich nicht steuern lässt. Der Kardinalfehler bei diesem Streit: beide Seiten reden von unterschiedlichen Dingen. Praktiker reden von »komplexen Problemen« und Experten von »komplexen Systemen«.[13] Sie hängen zusammen und sind doch verschieden. Wer »Komplexität meistern« will, muss das trennen. In diesem Artikel arbeite ich beide Sichtweisen heraus. Am Ende des Artikels entwerfe ich ein zeitgemäßes Verständnis von Professionalität - ohne neue Werkzeuge.
Komplexe Probleme und Systeme. Wie hängen sie zusammen?
Jemand steht vor einem komplexen Problem, wenn er versucht, gezielten Einfluss auf abhängige(!) autonome(!) offene (!) dynamische(!) Systeme zu nehmen, um einen gewünschten Zustand herzustellen.
Ich gehe erst auf die dynamischen Systeme ein, dann auf die Probleme beim Steuern und schließe mit einem Fazit.
1. Dynamische Systeme
Ich rede von offenen, dynamischen Systemen.[14] Das sind vordergründig lebende Systeme wie Menschen, Teams, Unternehmen, Städte, Märkte - und eingeschränkt auch Technik (z. B. was Regelkreise betrifft). Diese Systeme sind »offen« für Ressourcen aus der Umwelt, die »dynamisch« durch das System fließen. Das System organisiert den Durchfluss der Ressourcen. Ich meine stets »dynamisches System«, wenn ich »System« schreibe.
An dieser Stelle ein Einschub für Experten
Mein Verständnis über dynamische Systeme werden Sie in der Literatur so kaum finden. Entweder die Autoren reden über den Ressourcenfluss oder über die Organisation,
selten über beides. Auffällig ist, dass Physiker und Ingenieure eher auf den Durchfluss schauen und Soziologen und Biologen eher auf die Organisation. Vermutlich ein Artefakt ihrer täglichen
Fragen. Meines Erachtens brauchen wir in Unternehmen und Projekten beide Sichtweisen - gleichzeitig. Damit weiche ich bewusst von der überstrapazierten Diskussion zwischen System-Teil und
System-Umwelt ab.[15] Das führt zu weltfremden Debatten, ob ein Mitarbeiter im Unternehmen ist oder
in dessen Umwelt.[16] Das habe ich in diesem Artikel eleganter aufgelöst.
1.1. Dissipation von Ressourcen
Das System nimmt Stoffe, Energie und Informationen aus der Umwelt auf, verbraucht (»dissipiert«) sie und gibt den »Abfall« an die Umwelt ab. Organismen und soziale Systeme stellen zudem Ressourcen selbst her,[17][18] z. B. Zellen, Gedanken, Geld.
Was Dissipation für Nahrung bedeutet, erleben wir täglich an uns selbst. Bei Energie ist es schon schwieriger. Wir nehmen die hochwertige Wärme der Heizung auf und geben sie (für uns als System) als nicht nutzbare Energie ab. Was aber ist verbrauchte Information? Beispiel Chat-Nachricht: In dem Moment, wo wir die Nachricht lesen, ist ihr Informationsgehalt für uns aufgebraucht.[15] Wir sind nicht informierter, wenn wir die selbe Nachricht mehrmals lesen.
Befinden sich Zu- und Abstrom im Fließgleichgewicht hat das System einen stationären Zustand erreicht.[14] Es ist stabil. Verwechseln wir das nicht mit Statik. Wenn unser Blutfluss gestört ist, wird es schnell lebensbedrohlich. Eine Brücke dagegen behält seine Statik, wenn niemand darüber fährt.
Jedes System hat begrenzte Kapazitäten zur Dissipation. Bei einem zu hohen Zustrom kann das System kollabieren, pathologisch werden oder sterben. Bei Stoffen und Energie können wir uns das leicht am Körper vorstellen. Im einen Fall werden wir dick und krank; im anderen Fall verbrennen wir. Die destruktive Wirkung von Informationen können Sie beobachten, wenn jemand am Joghurtregal überfordert ist.
1.2. Systeme sind struktur-determiniert
Wie das System zugeflossene Ressourcen verwertet, hängt einzig von der internen Organisation ab, von der Struktur[15]: Das System organisiert Funktionen zur überlebensnotwendigen Dissipation. Die gekoppelten Teile verrichten ihre Teilfunktionen.[32] Exemplarisch zeigt Tab. 1 den Zusammenhang zwischen System, Funktion und Teilen.
System | Funktion | Teile |
Körper | Versorgung der Organe mit Sauerstoff | Herz, Gefäßsystem, Lunge |
Fabrik | Materialumwandlung/ -verformung | Maschinenpark, Handwerker |
Unternehmen | Erwartungen, Kommunikation, Handlungen | Mitarbeiter, Regelwerk |
Elektroantrieb | Drehmoment stellen | Batterie, E-Maschine, Inverter |
Versicherung | Existenzbedrohliche Risiken eliminieren | Einzahlungen der Versicherten |
Markt | Komparative Vorteile | Spezialisierte Volkswirtschaften |
Tab. 1: Beispiele für den Zusammenhang zwischen System - Funktion - Teil
Die Crux: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.[19] Ein einzelnes Teil kann die Funktion nicht realisieren.[17][18] Erst in Zusammenarbeit realisieren die Teile die Funktion. Das ist ein Aspekt von »Emergenz«. Weitere folgen.
Für die Praxis heißt das: Weder Sie noch ich können von einer »Einzahlung in Höhe von 500€« auf Schutz vor untragbaren Behandlungskosten schließen. Wir brauchen mehr Informationen.
Wer ein System verstehen will, muss das Ganze untersuchen,
anstatt vergeblich von den Details auf das Ganze zu schließen.[17][18]
1.3. Schutz des Überlebens
Änderungen der zu- und abfließenden Ströme sind Reize[20]. Sie stören das System. Auf einen Reiz kann das System verschiedenartig reagieren:
- Es »regelt« den Reiz anhand bestehender Funktionen[14]
- Es verändert seine Strukturen[17][18]
- Es ist überfordert und kann sterben[17][18]
- Es erkennt den Reiz nicht und tut nichts[15]
Fall 2), die veränderten Strukturen, ist bemerkenswert. Systeme können unerwartet und scheinbar willkürlich ihre Struktur verändern. Das passiert »emergent«. Das heißt: Ob, wo, wie und wann ein System seine Struktur ändert, ist niemals vorhersehbar. Jede neue Struktur »prüft« das System durch Versuch und Irrtum. Sichert eine Struktur das Überleben wird sie beibehalten, sonst angepasst/verworfen. Das System lernt. Eine Struktur heißt »viabel«, wenn sie das Überleben sichert.[21]
Viabel ist wertfrei. Es geht um einen »Fit« mit der Umwelt;
nie aber etwa »gut/schlecht«, »rentabel/unrentabel« oder »effizient/ineffizient«.
Diese Form von Lernen der Systeme sorgt für ihre vielkritisierte Trägheit.[22] Sie scheinen sich gegen Veränderung zu wehren. Was Berater und Change Manager als War-schon-immer-so, Bequemlichkeit oder Komfortzone diskriminieren, schützt das System in Wahrheit. Und: Wer garantiert, dass das Verständnis der Berater und Change Manager von »besser« auch viabel ist?
1.4. Schutz der autonomen Organisation
Die Organisation des Systems hat eine entscheidende Eigenschaft. Anders als für Ressourcen ist die Organisation ein Ohne-Input-System. Die Organisation lässt sich von außen nicht gezielt steuern oder anweisen. Das System wird seine Organisation autonom durch Versuch und Irrtum anpassen.[17][18][21] Wir können sie nicht mal sehen. Wir schließen bestenfalls vom Zu- und Abstrom der Ressourcen auf die Organisation zurück.
Die Organisation eines Systems ist autonom und vor der Umwelt geschützt.
Ein paar Beispiele:
- Ein Arzt kann einen gebrochenen Knochen ausrichten. Heilen muss der Körper selbst
- Ein Lehrer kann dem Schüler Lernangebote machen. Lernen muss der Schüler selbst
- Für neue Formalien der Zentrale findet ein Team Wege, um sie auszuhebeln
- In dezentralisierten Teams wird formale Macht durch Wissensmacht ersetzt
1.5. Schutz vor Unsicherheiten der Umwelt
Wie zuvor gesagt, können die Teile die emergente Funktion nicht eigenständig erbringen. Sie kooperieren und partizipieren von dem, was da entsteht.[15] Im Gegenzug geben die Teile Freiheitsgrade auf. Sie werden »versklavt« – auf ihre zugewiesene (Teil-) Funktion.[15] Das sehen wir eindrucksvoll nach Wahlen oder bei neuen Managern. Die neue Führung verspricht eine Kehrtwende; wird aber vom System schnell »auf Linie gebracht«. Das System schützt seine viablen Strukturen.
Das ist nicht per se schlecht, sondern überlebenswichtig. Reduzierte Freiheitsgrade machen erst handlungsfähig. Wieso? Das System filtert die Reize aus der Umwelt für die Teile. Die Teile können sich konzentriert(er) ihren Teilfunktionen widmen. Ohne diesen Filter wären die Teile allen Reizen der Umwelt ausgesetzt. Ein Beispiel aus einem befreundeten Unternehmen: Der Manager lässt im Zuge von Servant Leadership einem Team alle Freiheiten. Mitarbeiter sollen wie Unternehmer den Markt sondieren, sich Ziele stecken, entscheiden und handeln. Das Team aber versinkt in Details, feilt an Begriffen und verstrickt sich in zähen internen Verhandlungen – eindeutig Überforderung. Früher hatte der Unternehmer die Unsicherheiten des Marktes durch klare Vorgaben ersetzt (gefiltert).
Die Organisation eines Systems absorbiert Unsicherheiten aus der Umwelt
und macht die Teile handlungsfähig.[15]
Das ist im Übrigen die wichtigste Funktion von Management und Hierarchie. Mich schockiert, wie leichtfertig im Namen von Agilität oder New Work die Unsicherheiten erhöht werden.
1.6. Kopplung und Symbiose von Systemen
Auch wenn die Organisation eines Systems autonom ist und seine Teile schützt, so können sich Systeme gegenseitig beeinflussen. Sie sind über die Zu- und Abströme von Stoffen, Energie und Informationen gekoppelt. Veränderungen im Output des einen Systems sind Reize für andere Systeme. Zirkuläre Abhängigkeiten sind der Normalfall. Diese Symbiose[23] bedeutet:
Ein System, wie es jetzt konkret existiert,
kann nur im Kontext seiner Umwelt existieren.[15][24]
Wichtig: Durch diese Kopplung entsteht eine Kontrollillusion. Wir können die zufließenden Ströme eines Systems manipulieren und es reizen. Professionen wie Change Manager oder Unternehmer machen im Grunde genommen nichts Anderes. Wie das System darauf reagiert, hängt von der autonomen Organisation des Systems ab.
1.7. Konsequenz für den Umgang mit dynamischen Systemen
Sie ahnen sicherlich die bittere Realität:
Systeme lassen sich nicht gezielt steuern.
Sie können sich selbst verändern. Für uns willkürlich und zufällig.
Das ist ein Dilemma. Beseelt von Kontrolle, greifen wir mit logischer Präzision beherzt in Systeme ein. In den seltenen Fällen, wo das gelingt, feiern wir uns. Meistens »verhalten« sich Systeme widerspenstig, garstig und träge. Sie reagieren mit unerwarteten Seiteneffekten. Unser Ärger darüber sagt mehr über uns aus als über die Systeme. Schauen wir auf die Probleme.
2. Komplexe Probleme
Ein Problem ist ein unerwünschter Ist-Zustand.[25] Jemand meint, etwas müsste anders sein. Ein komplexes Problem verweist auf den Ist-Zustand dynamischer Systeme.
2.1. Komplexität = Maß des Nicht-Wissens
Für einen gerichteten Eingriff ins System brauchen wir vielversprechende Ansatzpunkte. Wir müssten die Reaktion(en) von Systemen auf Reize vorhersehen. Betrachten Sie nochmal die 4 Reaktionsmöglichkeiten des Kapitel 1.3.: Wenn ich z.B. einen BigMac bestelle, kann ich verlässlich vorhersehen, wie McDonalds auf meine Offerte reagieren wird. Wie aber wird die McDonalds-Aktie auf die zweite Coronawelle reagieren? Wird sie fallen? Wie tief? Ab wann? Wie lange? Steigt der Aktienkurs anschließend? Kann ich das Leerverkaufen? Beeinflusse ich damit den Aktienkurs? Bei wenigen Fragen habe ich eine verlässliche Antwort und ich muss unter Ungewissheit handeln. Daraus folgt:
Komplexität sagt nichts über das beobachtete System aus.
Es sagt uns, was ein Beobachter über ein dynamisches System und seine Kopplungen nicht weiß.
In diesem Verständnis stufen Ansätze wie Cynefin oder Stacey-Matrix das Nicht-Wissen in einfach, kompliziert, komplex oder chaotisch ab. Meines Erachtens reicht es aus, zwischen einfachen und vertrackten Problemen zu unterscheiden.[26]
2.2. Einfache Probleme
Zumindest ein Fachexperte kann einfache Probleme erschöpfend und abschließend formulieren. Gegebenenfalls analysiert, simuliert oder testet er das betroffene System. Er ermittelt Lösungsalternativen, wählt die vermeintlich Beste aus und setzt sie in kleinen, wohldefinierten Schritten um. Ziele und Anforderungen flankieren seinen Handlungsrahmen. Wie sich Lösungen auf die Ziele auswirken, kann er einschätzen. Das ist möglich, weil er mit wenigen – gegebenenfalls nur mit einem einzigen – Referenzsystem interagiert.[25]
Scrum-Teams, Fachprogrammierer, Steuerberater, Physiotherapeuten, Kassierer, Bankiers, Handwerker, Bauingenieure, Konstrukteure, Forscher und andere Fachexperten sind regelmäßig mit für sie einfachen Problemen konfrontiert.
2.3. Vertrackte Probleme
Bei vertrackten Problemen gilt das nicht. Bereits 1959 machte Lindblom[27] uns darauf aufmerksam und 1973 Rittel und Weber[25]. Charakteristisch für vertrackte Probleme wären:
- Viele gekoppelte dynamische Systeme sind betroffen.
- Niemand kann Ziele ohne Probleme ohne Lösungen formulieren.
- Für ein Problem lassen sich viele plausible Ursache-Wirkungs-Ketten aufstellen.
- Eine Lösung kann bestenfalls zufriedenstellen. Sie ist aber nicht »optimal«.
- Emergente Neben- und (zeitlich versetzte) Fernwirkungen kann niemand vorhersagen.
- Jeder Eingriff ins System ist ein Eingriff ins lebende System und begrenzt reversibel.
- Klare und verbindliche Spielregeln für alle fehlen.
- Kleinteilige, iterative Änderungen von Details garantieren keinen Erfolg für das Gesamtsystem, da emergente Effekte gegebenenfalls größere Eingriffe erfordern.
- Konzepte, Best Practices, Methoden oder Standards/Normen, die im einen System funktionieren, können in anderen Systemen anders/nicht/destruktiv wirken.
Die vertrackten Probleme bringen letztendlich zum Ausdruck, was ich bereits für Systeme schlussfolgerte: Wir können Systeme nicht gezielt steuern.
CEOs, Unternehmer, Politiker, Policy Maker, Strategen, Change Manager, System- und Software Architekten, Projektleiter, ility-Manager (Performance, Safety, Security, Usability, etc.) sind regelmäßig mit vertrackten Problemen konfrontiert.
3. Konsequenz: Professionalität neu denken
Bei vertrackten Problemen kann niemand Ziele ohne Probleme ohne Lösungen formulieren. Aber: Business Schools, Forscher und Berater bringen das in eine lineare Sequenz.[12] Sie proklamieren das Vorgehen für einfache Probleme als »professionell«.[28] Mantraartig bläuen sie uns das mit agilen oder klassischen Vorgehensmodellen, Methoden, Prozessen, Zertifikaten, Regelwerken und Audits ein. Vorgehen, Qualität, Kosten, Zeit und Risiko, so die Illusion, sollen wir eindeutig aus den Zielen ableiten – zumindest für kleine Inkremente. Abweichungen von diesen Konventionen werden diskriminiert und sogar sanktioniert.[28]
3.1. Muddling Through
Erforderlich wäre stattdessen die Kunst des »Muddling Through«[27], des sich Durchwurstelns[28]. Im Grunde genommen, sehen wir die Nichtsteuerbarkeit dynamischer Systeme als Normalfall an. Wir räumen die Möglichkeiten ein, dass wir diesen Weg einschlagen könnten oder jenen – aber keinen beliebigen.[29] Welchen Weg wir wählen, hängt etwa von der konkreten Situation, dem Kunden, dem Wettbewerb, den Lieferanten und den Machtverhältnissen ab.[29] Mit diesem Verständnis suchen wir nach existierenden Lösungssplittern,[29] setzen sie zusammen und lassen eine Lösung reifen (emergieren). Den Lösungsraum halten wir lange offen.[31] Allein schon deshalb, weil der Kunde erst ausdrücken kann, was er will, wenn er eine Lösung sieht.[30] Ferner müssen wir Lösungen erproben, bevor sie zu Ende gedacht sind (wohlwissend, dass das niemand kann). Muddling Through ist in Wahrheit Ausdruck von Professionalität. Sie sehen: Was wir erwarten, ist relevant. Nicht neue Werkzeuge.
3.2. Die Kulisse der Professionalität
Wir stehen vor einer paradoxen Situation. Wir riskieren unsere Glaubwürdigkeit, wenn wir gegen die Konventionen der Professionalität verstoßen. Und wenn wir sie einhalten, lösen wir keine vertrackten Probleme. Wir lösen das bereits heute mit Doppelstrukturen. Wir betreiben Muddling Through und umzäunen es mit einer Professionalitäts-Kulisse. Denn der Erfolg eines Vorhabens wird überwiegend an der Kulisse bemessen. Zur Not »errechnen« wir den Erfolg durch Logik und Trivialisierung.[28]
- Kosteneinsparungen werden eindeutig einem Projekt zugerechnet
- Aktiengewinne sind Ergebnis fundierter Analyse, anstatt der Konjunkturerholung
- Bei Quoten werden Nenner und Zähler umdefiniert
- Mitarbeitern werden vor Audits die richtigen Worte in den Mund gelegt
- Der Lieferant ist schuld
Berater, Coaches und Gurus sind häufig eher Kulissenspezialisten als Fachexperten. Das Risiko ist, dass wir durch das Schönbeten notwendige Strukturanpassungen übersehen und das System in eine Überlebenskrise abrutscht. Muddling Through heißt folglich auch, beiden Sichtweisen gerecht zu werden und die Kulisse von der Realität zu entkoppeln.[28] Zumindest mental.
4. Fazit
Die Kulissen werden immer rissiger. Unsere Kontrollillusionen bröckeln. Die Diskrepanz zwischen vorgezeigter Professionalität und realen Abläufen wächst. Diese Lücke wird derzeit mit Lippenbekenntnissen wie »Komplexität« oder »Agilität« zugeschmiert. Unser Nicht-Wissen darüber gleich mit. Gleichzeitig steckt darin die Chance, dass das Wissen über dynamische Systeme und vertrackte Probleme in die vermeintlich »professionellen Standards« eingeht. Das würde verändern, was wir erwarten, wie wir bewerten und unter Ungewissheit handeln.
Ihr, Nico Litschke
Fußnoten / Quellen / Literatur
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