
VUCA, Stacey-Matrix und Cynefin versprechen Orientierung in einer ungewissen Zukunft. Sie sollen erklären, ohne zu vereinfachen oder zu verkomplizieren. Doch genau daran scheitern sie. Ich zeige, warum diese Modelle Komplexität nicht erfassen, sondern in Effekthascherei enden – und wer davon profitiert.

Inhalt

VUCA, Cynefin, Stacey-Matrix in a Nutshell
Die drei Modelle kategorisieren die Komplexität eines Systems in disjunkte Dimensionen, wie die folgenden Abbildungen zeigen:



Entsprechend der Kategorien postulieren die Modelle disjunkte Handlungen:



Inkonsistenz zur Design-Forschung: Dorst[3], Cross[4], Christiaans[5], viel früher bereits Naur[6] und Floyd[7], später Ralph[8] haben klar aufgezeigt, wie sich unser Problem-Lösungs-Verständnis immer ko-evolutiv entwickelt. Die disjunkten Dimensionen enthalten folglich völlig invalide Kombinationen. Beispiel: Man kann nicht viel über eine Lösung wissen und wenig über das zugrundeliegende Problem. Das ist kognitiv unmöglich.
Ist die Lage der Handlungen im Koordinatensystem relevant? Keiner der Autoren, die ich fand, geht darauf ein. Sollen wir Scrum in dem gesamten gelben Bereich der Stacey-Matrix einsetzen? Oder taugt Scrum links oben besser als rechts unten? Falls im gesamten gelben Bereich: Wozu brauchen wir dann überhaupt das Koordinatensystem? Und, warum geben die meisten Autoren für kompliziert eigentlich nur "Kanban" an?
Vom bloßen Draufschauen schreit es bereits nach Effekthascherei. Vielleicht entsteht systemtheoretisch ein anderer Eindruck.
Unabhängige Systemeigenschaft
Stacey-Matrix und Cynefin beruhen auf einer Vierfelder-Logik: einfach, kompliziert, komplex, chaotisch. Dahinter stehen zwei implizite Annahmen:
- Ein System gehört in genau eine dieser Kategorien
- Die Kategorien bilden ein Kontinuum von „einfach“ bis „chaotisch“
Beides ist falsch. Die Kategorien sind unabhängige Systemeigenschaften, die gleichzeitig zutreffen können. Gut nachvollziehbar am Doppelpendel:
Bild 7: Dasselbe Doppelpendel mit gleicher Ausgangslage und Anstoß, aber unterschiedlichen Trajektorien. Quelle: Wikipedia[9])
Das System ist einfach aufgebaut: zwei Pendel, eine Achse, ein Gelenk. Zu Beginn hat das Doppelpendel stets die gleiche Ausgangslage und erhält den gleichen Anstoß. Nach wenigen Sekunden divergieren die Bewegungen drastisch – obwohl die deterministischen Gesetze der Physik gelten. Das Gelenk bewegt sich stabil auf derselben Kreisbahn (rote Kurve in Bild 8). Das zweite Pendel schwingt scheinbar chaotisch (blaue Kurve in Bild 8). Tatsächlich folgt es der Bahn eines „Lorenzattraktors“, den wir an diesen ästhetischen Schmetterlingsformen erkennen (Bild 9). Dessen Bahn bleibt in einem begrenzten Bereich des Raumes, nimmt jedoch nie genau denselben Weg – eine Eigenschaft chaotischer Systeme. Der Attraktor emergiert aus dem Zusammenspiel der Teile und „versklavt“ die weitere Bewegung der Teile – eine Eigenschaft komplexer Systeme.


Das System „Doppelpendel“ ist gleichzeitig einfach, komplex, chaotisch – und kompliziert: Will etwa ein Konstrukteur das Achslager optimieren, modelliert er die Geometrie, Kräfte und Materialien in einer Finite-Elemente-Software. Das Doppelpendel passt in alle Kategorien von Cynefin und Stacey.
Exkurs - ein beliebter Einwand: "Stacey-Matrix und Cynefin beschreiben, wie Menschen ein System wahrnehmen; Chaos- und Komplexitätstheorie beschreiben das System an sich". Humbug! Wir erinnern uns an Kant: „Das Ding an sich“[12] ist uns unzugänglich. Und an Heisenberg: "Wir erforschen nicht die Natur, sondern die der Beobachtung ausgesetzte Natur"[13]. Sprich: Auch Chaos- und Komplexitätstheorie sind mentale Modelle.
Bei VUCA ist es ähnlich. Die US Army prägte den Begriff zur Beschreibung der geopolitischen Lage nach dem Kalten Krieg.[14] Doch warum genau die Begriffe „volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig (Ambiguität)“? Warum nicht die wichtigeren Eigenschaften wie Emergenz, Pfadabhängigkeit, Versklavung, Hyperstabilität, usw.? Und warum überschneiden sich die Begriffe? „Mehrdeutig“ korreliert mit allen anderen. Komplexität verursacht die anderen Eigenschaften. Volatil bedeutet auch unsicher. Oder war eigentlich „chaotisch“ gemeint? VUCA wirkt eher als knackiges Akronym als eine sinnvolle Systembeschreibung.
Fazit: Stacey-Matrix, Cynefin und VUCA charakterisieren komplexe Systeme nur unzureichend. Systeme können gleichzeitig einfach, kompliziert, komplex, chaotisch, volatil, mehrdeutig, unsicher und vieles mehr sein – das widerspricht disjunkten Kategorien. Problematisch ist das, weil die unpassenden Kategorien mit Handlungspostulaten verknüpft sind.
Modellrisiken: Haarsträubende Handlungspostulate
Das Anliegen der Managementlehre ist weniger, die Welt in validen Modellen abzubilden, sondern Handlungsempfehlungen zu liefern (oben, Bilder 4 bis 6). Dafür wird sie bezahlt. Und genau hier liegt die Krux: Die disjunkte Einordnung von Systemen existiert nicht, weil sie systemtheoretisch sinnvoll ist, sondern weil sie Beratung ermöglicht. Schlimmer noch: Die gewählten Systemeigenschaften lassen genau so viel Interpretationsspielraum, dass Beratung möglich bleibt. Hätte man stattdessen Emergenz, Hyperstabilität, das Versklavungsprinzip oder Autopoiesis als Kategorien gewählt, wäre Beratung kaum möglich – denn sie negieren genau jene Interventionen, von denen Berater leben.
Als Safety-Experte sträuben sich mir da die Nackenhaare. Am Beispiel Cynefin - gilt aber analog für die anderen Modelle. Im „Komplizierten“ solle ich „auf Fachwissen setzen“ und im „Chaotischen“ „entschlossen und schnell handeln“. Zu verkürzt! In realen Projekten müssen Menschen mit dem jeweils größten Sachverstand handeln, vernünftige Annahmen treffen, ohne unzulässig zu vereinfachen, bewährte Protokolle einhalten und trotzdem flexibel reagieren.[15] Das eine gegen das andere auszuspielen ist nicht nur unzulässig – es ist gefährlich.
Modellrisiken: Jedes Modell trägt inhärente Risiken, weil es die Welt zwangsläufig vereinfacht und Fehlsteuerung induziert. Mark Twain bringt es auf den Punkt:“It ain’t what you don’t know that gets you into trouble. It’s what you know for sure that just ain’t so.”[16] Doch in Forschung, Lehre, Beratung und Coaching werden Modellrisiken fahrlässig ignoriert.
Auch die praktische Relevanz: Fehlanzeige! Wie sieht Ihr Projektalltag aus? Ich wette: Niemand philosophiert über „sensed“, „analyzed“ oder „categorized“ – oder über „einfach“, „komplex“, „chaotisch“. Stattdessen fragen wir uns: Was passiert hier gerade? Wer von uns hat am meisten Ahnung davon? Unser Nicht-Wissen treibt uns an. Stecken wir in einer Sackgasse, fehlt es an Lösungsalternativen.[22] Dann suchen wir automatisch Wege, die uns wieder handlungsfähig machen – ob durch Brainstorming, Design Thinking oder einen klugen Hinweis der Kollegen. VUCA & Co. tragen rein gar nichts dazu bei.
Zudem sind Begründungen der Handlungspostulate oft nicht mehr als unqualifizierte Vorstellungen („notions“). Bereits eine kurze Google-Suche liefert Unsinn frei Haus. Der eine behauptet, VUCA & Co. machen das Unbekannte bekannt. Nein, Menschen lernen. Ein anderer setzt Serienentwicklung nach V-Modell mit dem Versand eines Newsletters gleich. Lächerlich. VUCA-Gläubige reagieren auf VUCA z. B. mit „Vision, Understanding, Courage, Adaptility“. VUCA gegen VUCA! Oder gar "sei selbst VUCA!"[19] So als Identität? Kann man sich kaum noch ausdenken. Design Thinking scheint gar der Inbegriff des Problemlösens zu sein – dabei ist es ein stinknormaler Workshop zwischen Fachkollegen. Aber das klingt wohl nicht sexy genug.
Fazit: Die Kategorien von einfach bis chaotisch sind überflüssig für die Praxis, und die daran geknüpften Handlungspostulate erhöhen die Gefahr der Fehlersteuerung.
Gesunder Menschenverstand tut's auch
Die Kategorien von einfach bis chaotisch sind nicht nur überflüssig, weil sie invalide sind und Risiken erhöhen – sondern auch, weil Menschen sich intuitiv an ihre Umgebung anpassen. Unser Gehirn ist evolutionär darauf optimiert. Es ist neuroplastisch und lernfähig. Die eigentliche Frage ist nicht, ob wir uns anpassen können, sondern ob das soziale Umfeld Abweichungen von der etablierten Norm akzeptiert oder sanktioniert.[20]
Wozu braucht es dazu VUCA & Co.? Dafür braucht es auch keine System-, Chaos- und Komplexitätstheorien. Systeme mit strikten Regeln begrenzen Abweichungen und blockieren Innovationen – VUCA & Co. intellektualisieren das unnötig.
Die Nutznießer von VUCA, Cynefin und Stacey-Matrix
Trotz all ihrer Mängel erfreuen sich VUCA & Co. scheinbar großer Beliebtheit bei Gurus, Beratern und Coaches. Warum? Sie haben eine inhärent gute „consult-ability“ und „workshop-ability“. Was meine ich damit? Man kann mit ihnen Bücher, Keynotes und standardisierte Trainings füllen. Sie liefern schicke Diagramme, die sich leicht in Projektmanagement-Blogs kopieren lassen. In Workshops entstehen ästhetische Tafelbilder, in denen Probleme kategorisiert und in Breakout-Sessions Aufgaben, Zuständigkeiten und Prioritäten geklärt werden. Stinknormales Workshop-Handwerk, das nur eines ausnutzt: Fachleute fokussieren sich auf wenige Probleme.
Allerdings sind VUCA & Co. sexy. Knackige Akronyme und Vierfeldermatrizen bedienen den Wunsch nach einfachen Schablonen für eine unvorhersehbare Zukunft. Das verkauft sich gut. Leider haben auch renommierte Berater, Projektmanagementstandards und Fakultäten diesen Unsinn adaptiert. Der Halo-Effekt greift: Wenn die es sagen, muss es ja stimmen.[21] Was oft gesagt wird, wird noch öfter gesagt. Was häufig genug wiederholt wird, wird „wahr“. So hat sich der Unsinn verbreitet – der statistische „Matthäus-Effekt“[17] einer Pólya-Verteilung[18].
Ein weiteres Problem: System-, Komplexitäts- und Chaostheorien sind nicht mal eben nebenbei durchdrungen. Wer das erste Mal einen Cynefin-Workshop erlebt, ist eventuell beeindruckt oder sogar euphorisiert. Schließlich wandelt man jetzt „auf der Grenze zwischen Chaos und Komplexität“ (O-Ton einer Beraterin). Doch das ist reine Effekthascherei. Wie das konkret funktionieren soll, weiß niemand. Aber wenn Dr. Germanistin es sagt, wird es schon stimmen...
Genau das verschafft Gurus, Beratern und Coaches Folgeaufträge. Wenn die Umsetzung hapert, ist der Schuldige schnell gefunden: „Man hat es falsch gemacht“, „nicht richtig umgesetzt“ oder „unzulässig abgewandelt“. Dass der Ansatz dieser Dünnbrettchen von vornherein zum Scheitern verurteilt war, weil theoretisch invalide, weil praktisch untauglich, weil voller Modellrisiken, fällt hinten unter.
Zumal schon der nächste Trend umgeht: Selbstorganisation! Der neue heilige Gral. Aber das ist ein Thema für einen anderen Beitrag.
Zuvor: Wo haben Sie VUCA, Cynefin oder Stacey-Matrix eingesetzt? Wie hat es Ihre Praxis verbessert? Oder wie verschlechtert? Lassen Sie es mich in den Kommentaren wissen.
Ihr, Nico Litschke
Endoten
- ↑Wikipedia (2025). Cynefin framework. In Wikipedia, The Free Encyclopedia. Im Internet (Stand: 02.03.2025): https://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Cynefin_framework&oldid=1277560325
- ↑Bennett, N., & Lemoine, G. J. (2014). What a difference a word makes: Understanding threats to performance in a VUCA world. Business Horizons, 57(3), 311–317. https://doi.org/10.1016/j.bushor.2014.01.001
- ↑Dorst, K. (2019). Co-evolution and emergence in design. Design Studies, 65, 60–77. https://doi.org/10.1016/j.destud.2019.10.005
- ↑Dorst, K., & Cross, N. (2001). Creativity in the design process: co-evolution of problem–solution. Design Studies, 22(5), 425–437. https://doi.org/10.1016/S0142-694X(01)00009-6
- ↑Christiaans, H., & Dorst, K. H. (1992). Cognitive Models in Industrial Design Engineering: A Protocol Study. Design Theory and Methodology, 42, 131–140.
- ↑Naur, P. (1985). Programming as Theory Building. Microprocessing and Microprogramming, 15(5), 253–261. https://doi.org/10.1016/0165-6074(85)90032-8
- ↑Floyd, C. (1992). Software Development as Reality Construction. In C. Floyd, H. Züllighoven, R. Budde, & R. Keil-Slawik (Eds.), Software Development and Reality Construction (pp. 86–100). Berlin Heidelberg: Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-642-76817-0_10
- ↑Ralph, P. (2015). The Sensemaking-Coevolution-Implementation Theory of software design. Science of Computer Programming, 101, 21–41. https://doi.org/10.1016/j.scico.2014.11.007
- ↑Wikipedia (2018). Double pendulum simultaneous realisations. In Wikipedia, The Free Encyclopedia. Im Internet (Stand: 02.03.2025): https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Double_pendulum_simultaneous_realisations.ogv
- ↑Wikipedia (2013). Trajektorie eines Doppelpendels. In Wikipedia, The Free Encyclopedia. Im Internet (Stand: 02.03.2025): https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Trajektorie_eines_Doppelpendels.gif
- ↑Wikipedia (2013). Lorenz attractor. In Wikipedia, The Free Encyclopedia. Im Internet (Stand: 02.03.2025): https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Lorenz_attractor.svg
- ↑Wikipedia (2024). Ding an sich. In Wikipedia, The Free Encyclopedia. Im Internet (Stand: 02.03.2025): https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Ding_an_sich&oldid=250742775
- ↑Heisenberg, W. (2018). Das Naturbild der heutigen Physik (Vol. 1). Reinbek: Rowohlt Repertoire.
- ↑Mackey, R. H. (1992). Translating Vision into Reality: The Role of the Strategic Leader. U.S. Army War College, Pennsylvania. Retrieved from https://apps.dtic.mil/sti/citations/ADA251129
- ↑Weick, K. E., & Sutcliffe, K. M. (2010). Das Unerwartete managen: wie Unternehmen aus Extremsituationen lernen (2., vollständig überarbeitete Auflage). Stuttgart: Schäffer-Poeschel.
- ↑Leveson, N. G. (2011). Engineering a Safer World. Systems Thinking Applied to Safety (p. 534). Cambridge, London: MIT Press.
- ↑Wikipedia (2024). Matthäus-Effekt. In Wikipedia, The Free Encyclopedia. Im Internet (Stand: 02.03.2025): https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Matth%C3%A4us-Effekt&oldid=253438935
- ↑Wikipedia (2024). Pólya urn model. In Wikipedia, The Free Encyclopedia. Im Internet (Stand: 02.03.2025): https://en.wikipedia.org/w/index.php?title=P%C3%B3lya_urn_model&oldid=1260738789
- ↑Schober-Ehmer, H., & Krejci, G. P. (2015). (Selbst-)Führung bei Unsicherheit und Komplexität: Sei selbst VUCA! Zeitschrift Für Organisationsentwicklung, 4, 33–35.
- ↑Kühl, S. (2011). Organisationen: eine sehr kurze Einführung (1. Aufl.). Wiesbaden: Springer VS.
- ↑Wikipedia (2024). Halo-Effekt. In Wikipedia, The Free Encyclopedia. Im Internet (Stand: 02.03.2025): https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Halo-Effekt&oldid=253349306
- ↑Im Umkehrschluss des ethischen Imperativs, vgl. von Förster, H. (1988). Abbau und Aufbau. In Simon, F. B. (Hg.), Lebende Systeme (S. 19–33). Berlin: Springer.
Titelbild: eigene Darstellung und den angegebenen Quellen
Kommentar schreiben